Wandernde Bäume
Ein Bericht aus dem Gerichtsaal Freudenstadt, erschienen am 28. Juni 1933 in
der "Schwarzwald-Zeitung".
In der Schule lernt man, daß es wandernde Pflanzen gibt, die von
Jahr zu Jahr um eines Fingers Breite weiter rücken. Aber daß es auch wandernde
Bäume gibt, daß war bislang noch nicht bekannt. Das konnte man erst auf dem
Freudenstädter Amtsgericht erfahren, wo gestern der Schlußstrich unter dieses
wissenschaftliche Phänomen gezogen wurde. Staunend hörte man die seltsame Art
der Baumfortpflanzung, für die selbst Kilometerentfernungen kein Hindernis
bedeuten.
Man steigt bei Nacht - das ist nämlich die günstigste Zeit - in eines
Fremden Garten und flüstere schönen Bäumchen zu: "Kommt mit! Ich kann nicht
leben ohne euch!" Und wenn sie keine Antwort geben, dann ist dies das beste
Zeichen dafür, daß sie verführt sein wollen. Weil das aber nicht ohne
Spaten geht, nehme man einen solchen zur Vorsorge gleich mit. Alles andere gibt
sich dann schon von selbst....
Nach diesem Rezept wanderten aus der Baumschule eines Untermusbacher
Landwirts und Gärtners zwei Williams-, zwei Luxusbirnbäume und ein
Madame-Favrebirnbaum in den Garten eines Frutenhofers über. Ohne besonderes
Aufsehen zu erregen, war dieser Platzwechsel vor sich gegangen. Nur einer war
mit der Wanderung seiner hölzernen Zöglinge nicht einverstanden. Das war
natürlicherweise der Verlassene, weshalb er sich auf die Suche nach den
Verschollenen machte. Er lernte dabei Obermusbach, Igelsberg und Frutenhof
kennen. In jeden Garten lugte er vergebens hinein, bis es ihm eines Tages in
Frutenhof vor Wiedersehensfreude fast die Stimme verschlug. Er wollte andere an
seinem Glück teilnehmen lassen und erzählte es deshalb einem Mann in Uniform.
Das war ein Landjäger. Der freute sich auch und teilte es dem Amtsgericht in
Freudenstadt mit, vor dem nun aber der buchstäblich über Nacht "Beschenkte"
steif und fest behauptete: er wisse von nichts. Die fünf Bäume seien sein, wenn
sie auch in allen Dingen, wie Sorte, Alter, Pfropfung und was sonst zu den
Eigentümlichkeiten der Obstbäume des Untermusbacher Gärtners und Landwirts
gehörte, mit diesen übereinstimmten. Er habe die fünf Birnenbäume aus seinem
Krautacker herausgegraben. Daß dort die zwei Freudenstädter Sachverständigen und
der beste Fachmann des Bezirks, ein Losburger, nur drei Löcher und in diesen
keine Birnbaum, sondern Apfelbaumwurzeln gefunden hätten, deren
Schnittverletzungen bedeutend älter seien wie es der angeblichen Ausgrabung nach
der Fall sein dürfte, dies alles ändere an der Tatsache, daß nur ihm die
Bäumchen gehören, garnichts. Überhaupt sei alles von A bis Z Lüge, wenn
behauptet werde, er habe sie gestohlen.
Wahrhaftig beim Barte des Propheten, der kleine Mann in den weiten blauen
Arbeitshosen und der rockartigen Windjacke, über deren hochgeschlagenen Kragen
ein hoher, blütenweißer Stehkragen unschuldsvoll herausschaute, wehrte sich
tapfer um seine Haut. So wacker, daß das Gericht gestern in derselben Sache
schon zum zweitenmal die Bekanntschaft mit ihm machen mußte. Allerdings, wie
erwähnt, auch zum letzten Male: Er wurde trotz seines ständigen Leugnens, auf
Grund der Sachverständigenaussagen und des berechtigten Zweifels an der
Zufälligkeit, daß er zur gleichen Zeit, als in Untermusbach die Bäume
vermißt worden sind, sie aus seinem Krautacker herausgegraben haben will, zu
einer Geldstrafe von 80 Reichsmark verurteilt.
Gefunden und Aufgeschrieben von Hans Rehberg.