Finkbeiner Märchen

Das Märchen von den „Finkbeinern“

So hab‘ ich’s von meiner Mutter selig gehörig.
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal hier im Schwarzwald ein Bauer, der war reich und geizig zugleich, wie denn wohl häufig zu gehen pflegt. Sein junges Weib hatte ein mitleidiges Herz und hätte den Armen gerne noch mehr geschenkt, als sie ohnehin heimlich tat.
Aber der Bauer litt es nicht, daß sie Almosen gab und sagte: „Muß jeder selbst sehen, wie er sich durchbringt!“ Das machte die Bäuerin oft traurig, aber um des lieben Frieden willen widersprach sie ihrem Mann nicht.
Eines Abends im Herbst – es regnete und der Sturm heulte schauerlich – klopfte es am Tor des Bauernhauses. Der Mann ging hinaus um zu sehen, wer zu so später Stunde käme.
Es war ein armer Handwerksbursche, der den Weg verfehlte hatte und nun um ein Nachtlager bat. Aber der Bauer fuhr ihn an: Meint Ihr, ich hätte mein Nest für fremde Vögel gebaut? Macht, daß ihr fortkommt!“ Der also Zurückgewiesene war ganz erschrocken, er spürte die Wärme des Herdfeuers, das von der Küche aus mit mancherlei Gerüchen zu ihm drang und war durch die Hartherzigkeit des Bauern aufs tiefste erbittert.
„Jagt nur auch gleich die Finken fort, die sich auf Eurem Dach eingenistet haben, grausamer Mensch!“ rief er, und als er in der Ferne die Bäuerin sah, die sich in guter Hoffnung befand, schrie er voll Zorn:
„Ich wünsch‘ Euch, daß Euer Kind mit Finkenbeinen zur Welt kommen soll!“ Und dann ging er fort.
Die Bäuerin war heftig erschrocken; sie fühlte, wie das Blut ihr in die Wangen stieg, und sie fing an laut zu weinen. Der Bauer aber lachte und meinte, sie solle sich aus dem dummen Geschwätz nichts machen.
Ja, das war leicht gesagt, die Bäuerin konnte in der Nacht kein Auge zutun, sie mußte immerfort an die Verwünschung ihres Kindes denken. Kurze Zeit darauf brachte sie ein Mägdelein zur Welt, das zum Entsetzen aller, die es sahen, keine Menschenbeine, sondern richtige dürre Finkenstelzen hatte.
So hatte sich der böse Wunsch also doch erfüllt. Die Eltern waren untröstlich darüber, zumal das Kind im übrigen so wohlgestaltet und lieblich anzusehen war, daß es einem Englein glich. Und es war das liebenswürdigste, sanfteste Geschöpf, das man sich nur denken konnte.
Die Mutter ließ es von klein auf ganz lange Röckchen tragen, damit niemand die Schande sehe. Jedoch das Geheimnis blieb trotzdem nicht verborgen, und bald nannte man die Kleine auf dem Bauernhof und im ganzen Dorf nur „das Finkbeinerle“.
Das war aber kein Spottname, denn jedermann hatte es lieb, weil es so gut und freundlich war. Seltsam war es, daß der strenge Bauer durch sein Töchterlein allmählich völlig verändert wurde: erlitt es nicht nur, daß das Kind den Armen Gaben schenkte – was es von Herzen gern tat -, er gab sogar selbst; es war, als wollte er die Schuld, die er auf sich geladen, abbüßen.
Die Bäuerin war glücklich darüber, es war ihr eine Last vom Herzen genommen, seitdem die Sinnesart ihres Mannes sich so gewandelt hatte; und beide wären jetzt ganz zufrieden gewesen, wenn ihr liebes Kind nicht so jammervoll gezeichnet gewesen wäre.
Das Finkbeinerle selbst klagte nie, sondern war immer gleichmäßig heiter, obwohl es mit seinen dürren Stelzbeinchen nur mühselig an seinem Stöckchen gehen konnte. Am liebsten saß es in der Sonne vor dem Haus und half Mutter beim Erbsenverlesen oder beim Bohnenschneiden, denn mit den Händchen war es überaus geschickt.
Nun war in demselben Dorf ein armes Büble, das hatte die Eltern früh verloren und diente jetzt als Schafhirt bei dem Bauern. Dieser Heiner war des Finkbeinerles bester Freund, er brachte dem Kind immer etwas mit, wenn er die Schafe heimtrieb: ein selbst geschnitztes Pfeifchen aus Weidenrohr oder ein paar bunte Wiesenblumen, die er gefunden, oder ein Körbchen aus Binsen, das er in seinen Mußestunden geflochten. Und das Finkbeinerle freute sich schon, wenn es den Heinerle von weitem kommen sah.
Er war ein aufgeweckter Bursche und verstand manches, was seine Altersgenossen nicht wußten. So hatte er – weil er beim Schafhüten doch viel Zeit hatte – den Vögeln ihre Sprache abgelauscht und begriff nun alles, was die kleinen Sänger über ihm in der Luft zwitscherten. Das war unterhaltend genug, und darum langweilte sich der Heiner auch nie, wenn er mit seinen Schafen auf der Weide war. Und er verstand auch, was sein kleiner schwarzer Spitz sagte (wenn die anderen meinten, daß er nur bellte) und unterhielt sich oft stundenlang mit ihm.
Weil er nun das Finkbeinerle so lieb hatte, dachte er häufig darüber nach, wie er ihm wohl helfen könnte, daß es richtige Beine wie andere Kinder bekäme, aber er fand keinen Rat, so viele Kräuter er auch suchte und auf ihre Heilkraft prüfte.
Einmal im Sommer saß er unter einer alten Buche, da hörte er, wie ein Finkenpärchen über ihm in den Zweigen miteinander Zwiesprache hielt. Und das Finkenweibchen sagte zum Männchen: „Heute nacht ist Vollmond. Da blüht die rote Wunderblume auf dem Finkenberg. Wer sie findet, hat einen Wunsch frei, der in Erfüllung geht. Aber die Menschen wissen nichts davon.“
Da antwortete das Finkenmännchen: „Es ist jammerschade, daß sie es nicht wissen, denn die Menschen haben gewiß viel unerfüllte Wünsche auf dem Herzen, ich höre sie oft seufzen.“
Als Heiner dieses seltsame Gespräch mit angehört hatte, war er sehr froh, denn nun wußte er, was er tun mußte, und einen Wunsch hielt er auch schon bereit.
Er trieb eilig seine Schafe in den Stall und wanderte noch in derselben Nacht auf den Finkenberg. Es war dunkel, denn der Mond war durch eine große schwarze Wolke verdeckt, und der Heiner konnte kaum den Weg erkennen. Aber er ließ sich dadurch von seinem Vorhaben nicht abbringen, sondern ging immer in der Richtung zum Finkenberg, die er genau kannte, aufwärts; und er strengte seine blauen Augen heftig an, um die rote Wunderblume zu entdecken.
So war er lange Zeit bergauf geschritten, da erhob sich plötzlich ein tüchtiger Windstoß, der trieb die Wolke, die auf dem Mond lag, ganz hinweg. Und es war auf einmal alles licht wie am Tage, und als der Heiner sich umschaute, stand er hoch oben auf dem Finkenberg und gewahrte dicht neben sich die rote Wunderblume. Er pflückte sie geschwind, steckte sie in sein Wams und lief nach Hause.
Als er heimkam, war es schon Morgen, und das Finkbeinerle war gerade aufgestanden. „Wo kommst du denn her, Heiner?“ fragte es. „Vom Finkenberg, und ich hab‘ dir etwas mitgebracht.“ Mit diesen Worten und zugleich fest an seinen Wunsch denkend, gab er dem Kind die Wunderblume in die Hand.
Dem war’s auf einmal, als fielen ihm seine dünnen Finkenbeine ab und als wüchsen ihm neue Stützen aus Fleisch und Blut, und als es an sich hinuntersah, da schaute es auf zwei nackte, weiße Menschenfüßchen. Mit denen lief es ganz geschwind – und es konnte plötzlich springen wie ein junges Füllen – zu den Eltern und rief einmal übers andere: „Schaut nur, ich habe neue Beinchen bekommen, ich kann jetzt springen wie die anderen Kinder.“
Vater und Mutter wollten ihren Augen nicht trauen, als sie das Wunder sahen, und sie fielen beide auf die Knie und dankten Gott für seine Güte. Und dann umarmten und herzten sie ihr Kind und wußten sich vor Freude nicht zu fassen.
Der Heiner aber stand daneben und sagte kein Wort, nur die hellen Tränen liefen ihm vor Seligkeit die Wangen hinunter. Als aber der Bauer fragte, wie denn das gekommen sei, denn er sei doch wohl dabei gewesen, als das Unbegreifliche geschah, da erzählte er alles der Reihe nach, und das Finkbeinerle zeigte die rote Wunderblume und küßte den Buben auf den Mund, zum Dank für seine Tat.
Und der Bauer sagte: „Heiner, weil du einen Wunsch für mein Kind geopfert hast, darfst du dir jetzt auch etwas von mir wünschen; ich will’s dir gewähren, und wenn’s mein ganzes Hab und Gut wäre.“
Der Heiner bedachte sich nicht lange und sprach: „Gebt mir das Finkbeinerle, wenn’s groß ist, zur Frau!“ Das sagte ihm der Bauer gleich freudig zu, und später, als das Kind eine schöne Jungfer und das Hirtenbüble ein stattlicher Mann geworden war, haben sie richtig geheiratet.
Und Gott schenkte ihnen ein gesegnetes, langes leben und viele brave Kinder dazu.
Und sie nannten sich „Finkbeiner“ zur Erinnerung an das große Wunder, das geschehen war.
Sie ließen keinen Bettler unbeschenkt von ihrer Türe weggehen und keinen fremden Wanderer unbeherbergt und unbewirtet. Und alle späteren Finkbeiner waren stolz auf ihren Namen, obwohl die wunderbare Begebenheit ja gar nicht ihr eigenes Verdienst war.“

Für dieses Märchen erhielt Beate Berwin anläßlich der Schriftstellertagung im Mai 1926 in Freudenstadt den 1. Preis. Erschienen in den „Freudenstädter Heimatblätter“ im August 1980.
Aufgeschrieben von Hans Rehberg

Letzte Änderung am 16.03.21